Frau Hartwig, mit einer guten Nase
für gesellschaftspolitische Minenfelder
haben sie sich im Laufe ihrer Karriere
bei einigen Menschen ziemlich unbeliebt
gemacht. Früher waren sie einmal als
Deutschlands einflussreichste
Scientology Kritikerin bekannt, jetzt
klingen sie wieder ziemlich wütend, was
ist los?
Ich bin schon wieder in ein
Schlangennest getreten! In Deutschland
zieht gerade eine Gesundheitsmafia -
anders kann man sie nicht bezeichnen –
Sachen ab, die anderswo nie hätten
passieren können. In Frankreich oder
Italien wären bei so etwas innerhalb von
kürzester Zeit die Straßen voll mit
protestierenden Bürgern gewesen, die
gesagt hätten: Sagt mal tickt ihr noch
richtig in der Politik, was macht ihr
denn da?! Aber den Deutschen fehlt meist
die Zivilcourage, die lassen gerne
andere für sich entscheiden, und meckern
dann erst wenn es zu spät ist. Das muss
ein Gendefekt sein, irgendetwas stimmt
da nicht.
Also, wofür müssten wir auf die
Straße? Gegen die Gesundheitsreform?
Genau da gegen! Denn was bei uns in
Deutschland unter dem Etikett der
„Gesundheitsreform“ läuft, ist nichts
anderes als der Ausverkauf, die völlige
Auflösung unserer solidarischen
Gesundheitsversorgung. Seit Jahren
machen Politiker aller Fraktionen
Gesetze, mit denen sie bestimmten
Konzernen zuarbeiten,
Kapitalgesellschaften denen es nur noch
um Gewinnmaximierung geht, und nicht um
den kranken Menschen. Die Ärzte werden
gleichzeitig an einem langen Band von
staatlichen Stellen gegängelt, und mit
Zwangsmitgliedschaften bei
Kassenärztlichen Vereinigungen
versklavt. Das mache ich nicht länger
mit! Ich habe eine Bürgerinitiative
gestartet und werde einen Volksentscheid
durchsetzen, gegen diesen politischen
Wahnsinn, den die da entschieden haben.
Den Kassenärztlichen Vereinigungen
wird doch gerade aus der Politik oft
vorgeworfen, sie seien Kartelle, die den
Wettbewerb blockieren. Das klingt doch
eigentlich nach Protektionismus
zugunsten der Ärzte?
Keinesfalls. Wie die vorgehen, das
erinnert eher an die Cosa Nostra. Alle
niedergelassenen Ärzte, die
Kassenpatienten behandeln, müssen sich
einer Kassenärztlichen Vereinigungen
anschließen, die dann für sie die
Honorare mit den Kassen aushandelt. Aber
die KV agiert eben nicht im Interesse
ihrer Mitglieder, sondern muss als
Körperschaft des Öffentlichen Rechts die
Gesundheitsrichtlinien der Regierung
durchsetzen. Und die, wie gesagt, ist
gerade dabei unsere
Gesundheitsversorgung zu verscherbeln.
Ein Ergebnis ist, dass Ärzte aus eigener
Tasche das zurückzahlen müssen, was sie
zuviel für Patienten ausgegeben haben.
Krebspatienten zum Beispiel, die
zeitintensive Behandlungen und
regelmäßige Medikamente brauchen, sind
damit geradezu ein Existenzrisiko für
die behandelnden Ärzte. Oder nehmen sie
einen anderen Fall, der in meinem Buch
steht und kürzlich in den Tagesthemen
war: Ein Arzt der jetzt über 100.000
Euro Regress hat, weil er allen
behinderten Kindern im Umkreis das
verschrieben hat, was sie brauchen. Und
wenn wir behinderten Menschen das
vorenthalten, was ihre Lebensqualität
steigern könnte, dann haben wir als
Gesellschaft versagt!
Sind also die Kassenärztlichen
Vereinigungen selbst im Schwitzkasten
der Politik?
Je mehr ich recherchiere, desto
deutlicher zeigt sich, dass es den KV’s
vor allem um Geld und Macht geht. Sie
streichen Unsummen von den Ärzten ein,
2,5 % von deren Bruttoumsatz, schädigen
Ärzte über Regresse und lassen sich
nicht in die Karten schauen. Das alles,
weil es ihnen der Gesetzgeber
ermöglicht. Und dann gründen sie ohne
Skrupel GmBH’s und CoKg’s auf
Aktienbasis oder Stiftungen um ihre
persönlichen Existenzen und Einnahmen
für die Zukunft zu sichern. Um den
Patienten geht es dort kaum noch
jemandem. Was Ärzte wegen ihrer
notwendigen Behandlung am Patienten zu
hören bekommen, sagt viel über die
Einstellung einzelner KV- und Kassen
Fürsten: „Mit 92 braucht man keine
solche Behandlung mehr,“ oder: „Wieso
wollen sie da noch groß was machen, bei
dem Krebskranken, wenn der eh stirbt?“
Das heißt im Klartext: Gib ihm weniger,
dann haben wir den schneller von der
Backe! Ich weiß, dass es solche Aussagen
gibt, ich habe mit dutzenden von Ärzten
darüber diskutiert, die ähnliches gehört
haben. Auf der ganzen Welt gibt es keine
Kassenärztliche Vereinigung, nur in
Deutschland. Eine für den Bund, dann
noch 16 einzelne für die Länder, und
jede hat Vorstände, die im Schnitt
zwischen 220 und 300 Tausend Euro im
Jahr verdienen. Noch Fragen?
Neben dem Kartell der KV’s
kritisieren sie vor allem die Öffnung
der Gesundheitsversorgung für die
Wirtschaft. Besteht nicht die Hoffnung,
dass der Markt langfristig die
Gesundheitsversorgung besser und
effizienter gestaltet, als es die
schwerfällige Verwaltung des Staates
getan hat?
Also, ich bin keine Linke und komme
jetzt mit irgendwelchen sozialistischen
Parolen! Aber wir dürfen als Menschen
und Patienten nicht rationiert werden.
Wir zahlen als Kassenpatienten immer
mehr, und bekommen immer weniger. Und
umso älter und kränker wir werden, umso
schlimmer geht’s uns. Von Effizienz kann
keine Rede sein. Unter dem Einfluss der
Wirtschaft wurden beispielsweise gerade
19 Milliarden in die elektronische
Gesundheitskarte gesteckt. Und wer
profitiert davon? Zuerst einmal die
Lobbyisten. Die haben die Politik davon
überzeugt das Geld auszugeben, mit dem
Argument wir bräuchten dann keine
Doppeluntersuchungen mehr. Da kriege ich
ja einen Lachanfall! Stellen sie sich
mal vor wie lange das braucht, bis 19
Milliarden sich amortisieren! Wer
wirklich davon profitiert, sind die
beteiligten Firmen, wie Siemens und
einige IT-Firmen, insgesamt etwa fünf
Unternehmen! Das ist, als würden sie
morgen die Elbe umleiten, damit fünf
Schiffe Gewinn machen.
Sie sagten einmal, bei uns findet
eine Amerikanisierung im
Gesundheitswesen statt. Was heißt das
konkret?
In den USA wird man praktisch nur noch
versichert, wenn man jung und gesund
ist. Bestimmte Krankheiten werden gar
nicht mehr versichert. Deshalb gibt es
fünfzig Millionen unversicherte
Amerikaner. Deren komisches System der
„Integrierten Versorgung“ führt dazu,
dass der Kranke betteln, weinen und auf
Knien rutschen muss, damit ihn überhaupt
noch eine Versicherung nimmt.
„Integrierte Versorgung“ heißt:
Praktisch das gesamte System ist in der
Hand eines Aktiennotierten Unternehmens.
Wer dort versichert ist, dem wird der
Arzt vorgeschrieben – ein Angestellter
des Selben Unternehmens, der meist am
Gewinn beteiligt ist. Der Gewinn
wiederum erhöht sich, je weniger für den
Patienten geleistet wird. Auch das
vorgeschriebene Krankenhaus gehört dem
Unternehmen: Pech für den, der einen
Notfall weit weg von einem solchen
Krankenhaus hat: Möglich, dass sie schon
tot sind, wenn sie dort ankommen. Das
alles ist übrigens kein Horrorszenario,
sondern in den USA längst Realität. Kein
Wunder, denn was wollen
Kapitalgesellschaften? Gewinn machen! So
wird der Mensch zum Teil der
Wertschöpfungskette, und damit zur
Ausbeutung freigegeben.
Und wenn ich sehe, wie unsere
Gesundheitspolitiker regelmäßig in die
USA reisen, um sich das dortige System
anzuschauen, dann werde ich schon
stutzig. Insbesondere nachdem sie
mehrmals das dortige
Krankenversicherungsunternehmen Kaiser
Permanente besucht haben, und deren
Vertreter auch schon in Deutschland bei
Politikern vorstellig wurden.
Sie sprechen von dem Konzern, an dem
Michael Moore in seinem Dokumentarfilm „Sicko“
kein gutes Haar lässt.
Genau von dem. Und alle pilgern sie zu
Kaiser Permanente in die Staaten: Zuerst
Ulla Schmidt 2007, und im Mai 2008
Gesundheitspolitiker aller Fraktionen!
Kaiser Permanente gehört heute zu den
weltweit größten Versicherungsanbietern
der integrierten Versorgung, exakt die
Art Konzern, von dem ich eben sprach.
Der Laden ist ein Eisbrecher für die
Umsetzung amerikanischer Zustände in
Deutschland. Unsere Politiker steuern
durch ihre Gesetzgebung und dem Ruf nach
dieser integrierten Versorgung seit
Jahren schon genau dorthin!
Wie äußert sich das?
Schauen sie sich doch einmal um: Das
erwähnte Beispiel Krebserkrankung.
Bestimmte Krebsmittel zahlt die Kasse
einigen Krebskranken gar nicht mehr. Im
Klartext: Sie können Krebs haben und vom
Arzt extrem geringe Überlebenschancen
attestiert bekommen, dann haben sie
einfach Pech gehabt: Es wird gar nicht
erst versucht, sie wieder gesund zu
kriegen. Aber Krankheit und Armut können
jeden treffen. Darüber müssen wir uns
klar sein, und eine Antwort auf die
Frage nach dem richtigen Umgang damit
finden. Und wir dürfen es nicht auf der
Ebene diskutieren, wie es der ehemalige
Hamburger Justizsenator Kusch tut, wenn
er im Fernsehen die Sterbehilfe in einem
Tonfall diskutiert, als ginge es um
auszuwechselnde Glühbirnen! Da dreht
sich mir der Magen um. In so einer
Gesellschaft möchte ich nicht, dass
meine Enkelkinder groß werden: Deshalb
wehre ich mich und ich bin längst nicht
mehr allein!
Der Zustand unseres
Gesundheitssystems ist für sie also ein
sichtbares Symptom einer tiefer
liegenden Haltung unserer Gesellschaft
zum Menschen und seiner Würde?
Absolut. In dieser Gesundheitsdiskussion
zeigt unsere Gesellschaft ihre Fratze.
Wenn ich mir vorstelle, dass eine Frau
in Würzburg sich von einem
Selbstdarsteller wie diesem Kusch beim
Sterben filmen lässt, mit dem einzigen
Argument, dass sie Angst vor dem
Pflegeheim hat! Wie weit wir gekommen
sind, dass ein allein stehender Mensch
mit 79 Jahren absolute Panik bekommt,
beim Gedanken nichts mehr wert zu sein.
Der Mensch wird bewertet, nach dem was
er für die Gesellschaft leistet. Da
bricht der Neoliberalismus in einer Form
durch, die uns kaputt macht. Aus dieser
Denke heraus haben wir Probleme in der
Familienpolitik, Probleme in der
Sozialpolitik und Probleme in der
Gesundheitspolitik. Der Ursprung ist
immer der Gleiche: Wir lassen als
Gesellschaft zu, dass Menschen nach
ihrer Produktivität bewertet werden.
Wie wird unser Gesundheitssystem in
zwanzig Jahren aussehen, wenn sich alles
so weiterentwickelt wie bisher?
Dann gibt es weder Ärzte, noch
Patienten. Ärzte sind dann
Servicepersonal, Firmentechniker die
halt das abwickeln, was der Konzern
will. Und wir sind die Kunden. Wenn wir
das Geld für den Luxusservice haben,
kriegen wir ihn. Wenn nicht, geht es uns
genau wie den 50 Millionen
unversicherten Menschen in den USA, die
von den Krankenhäusern mit dem Taxi vor
die Obdachlosenasyle gekarrt und dort in
den Rinnstein geschmissen werden. Ich
bin mal sehr gespannt, ob sich die
Politiker trauen sich uns Bürgern zu
stellen. Ich fordere längst
Gesundheitspolitiker dazu auf mit mir
öffentlich die Faktenlage zu
diskutieren, und zwar nicht nur auf der
ökonomischen Lobbyistenebene. Die
stattfindende Entwicklung muss zur
Gesellschaftsdiskussion werden. Und die
möchte ich landesweit lostreten!
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Constantin Magnis
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